Mittwoch, 31. Mai 2023

Falsche Freunde Teil 1

Thema: mathematische Formeln

Spezialfall der binomischen Formeln

Eine im Allgemeinen nicht gültige Version der ersten binomischen Formel sehe ich, so wie wahrscheinlich viele andere in meinem Beruf mit demselben Unterrichtsfach, leider immer wieder:

\[(a + b)^2 =  a^2 + b^2\]

Falls jedoch \(a = b = 0\) gilt, ist das Ergebnis dieser falschen Umformung tatsächlich richtig.

Mediante

Ein beliebter Fehler bei der Addition von Brüchen, ist, die beiden Zähler und Nenner zu addieren:

\[\frac{a}{b} + \frac{c}{d} = \frac{a+c}{b+d}\]

Das ist zwar nicht der richtige Bruch, aber immerhin die sogenannte Mediante (Mittelzahl). Dieser Bruch liegt stets zwischen den beiden anderen und man erhält ihn, indem man jeweils die beiden Zähler bzw. Nenner addiert und zum neuen Zähler bzw. Nenner des Bruchs macht. Allerdings wird fälschlicherweise oft davon ausgegangen, dass die so entstandene Zahl exakt in der Mitte zwischen den beiden anderen Brüchen liegt. Dieser Irrglaube lässt sich jedoch schnell entkräften: So liegt beispielsweise die Mediante der beiden Brüche \(\frac{1}{2}\) und \(\frac{1}{8}\) näher beim zweiten Bruch.*

Dreiecksfläche

Eine falsche Formel für die Fläche des allgemeinen Dreiecks, die ich bei meinen Lernenden hin und wieder sehe, ist diese hier: \(abc = A\). Die Fläche können wir mit dem Produkt der drei Seiten zwar nicht berechnen, aber es gibt tatsächlich einen recht ähnliche Formel: \(abc=4rA\)

Um zu verstehen, wie man darauf kommt, zeichnen wir ein Dreieck \(ABC\) mit den Seiten \(a = BC\), \(b = AC\) und \(c = AB\), den dazugehörenden Umkreis mit Durchmesser \(d = AD\) und die Höhe \(h = AH\) auf \(a\), wobei \(D\) der auf dem Kreis liegende Punkt gegenüber von \(A\) und \(H\) der Höhenfußpunkt auf \(a\) ist:

Veranschaulichung der Herleitung (Bildquelle: eigene Darstellung mit GeoGebra)

Die Winkel \(\gamma_1 = \angle AHC\) und \(\gamma_2 = \angle ABD\) sind beide 90 Grad groß, weil die Höhe \(h =AH\) normal auf \(BC\) steht und der zweite Winkel aufgrund des Satzes von Thales rechtwinklig ist. Da die beiden Punkte C und D über der Kreissehne\(AB\) liegen, sind die beiden Winkel \(\beta_1 = \angle ACH\) und \(\beta_2 = \angle ADB\) aufgrund des Peripheriewinkelsatzes ebenfalls gleich groß. Also sind auch die beiden Winkel \(\alpha_1 = \angle CAH\) und \(\alpha_2 = \angle BAD\) gleich groß und die Dreiecke \(ACH\) und \(ABD\) zueinander ähnlich. Daher gilt auch \(AB \sim AH\), \(AD \sim AC\) und \(BD \sim CH\) und wir können das folgende Verhältnis aufstellen:

\[\frac{AB}{AD} = \frac{AH}{AC} \Rightarrow \frac{AB}{2r} = \frac{AH}{AC} \Rightarrow 2r \cdot AH = AB \cdot AC\]

Wir wissen, dass die richtige Formel für den Flächeninhalt wie folgt lautet: \(A = \frac{a\cdot h}{2}\).

\[abc = a \cdot 2r \cdot AH = 2r \cdot a \cdot h = 2r \cdot 2A = 4rA\]

Johannes C. Huber (wartet gespannt auf neue falsche Formeln bei Hausübungen und Schularbeiten)

* Wer es genau wissen möchte: Die Brüche als Dezimalzahlen haben die Werte \(\frac{1}{2} = 0,5\), \(\frac{1}{8} = 0,125\) und \(\frac{1+1}{2+8} = \frac{2}{10} = 0,2\). Die Längen der beiden Abstände zu Mediante sind \(|0,5 - 0,2| = 0,3\) und \(|0,125 - 0,2| = 0,075\).

Quellen:

Montag, 15. Mai 2023

Wie mein Vetter dritten Grades

Thema: Verwandtschaftsbeziehungen und Baumdiagramme

Dieser Beitrag ist am 26.05.2023 auch im Standard erschienen.

Das Thema Verwandtschaft ist, im wahrsten Sinne des Wortes, unglaublich vielseitig. Mit Aszendenz- oder Ahnentafeln (auch Ahnenblättern) können wir bis zu einem gewissen Grad in die Vergangenheit und mit Deszendenz- oder Nachkommentafeln (auch Stammbäumen*) in die Zukunft blicken. Dabei handelt es sich um Baumdiagramme, die zur Übersicht unserer Vorfahren beziehungsweise Nachkommen dienen. Wir stellen in beiden Fällen den Ausgangspunkt dar und jede Generation vor beziehungsweise nach uns entspricht einer Pfadebene im Baumdiagramm. Wenn wir beide Darstellungen miteinander kombinieren, erhalten wir eine sogenannte Konsanguinitäts- bzw. Verwandtschaftstafel:

Verwandtschaftstafel (Bildquelle: eigene Darstellung mit Word)

Diese können wir uns wie eine Art Periodensystem für miteinander verwandte Personen vorstellen. Normalerweise finden wir darin auch Angaben zum Grad der Verwandtschaft, auf den ich im Laufe dieses Beitrags näher eingehen möchte. Wenn wir nämlich auf Deutsch vom Verwandtschaftsgrad sprechen, müssen wir zwischen mehreren Arten unterscheiden. Schließlich gibt es neben dem genetischen und dem rechtlichen Verwandtschaftsgrad außerdem noch den sogenannten Generationenabstand.

Wie kann Verwandtschaft beziffert werden?

Zunächst einmal schauen wir uns den genetischen Verwandtschaftsgrad an, den wir umgangssprachlich auch als Blutsverwandtschaft bezeichnen. Dieser hängt damit zusammen, wie sehr unser Erbgut dem einer anderen Person ähnelt und wird mit dem sogenannten Verwandtschaftskoeffizienten (kurz: R) angegeben. Dabei handelt es sich um die Wahrscheinlichkeit, dass ein zufällig ausgewähltes Gen von uns mit dem einer anderen Person übereinstimmt. Der jeweilige Grad ist die Hochzahl der Potenz vom Faktor ein Halbes:


Unser eigener Verwandtschaftskoeffizient ist gleich eins, also ist unser Grad gleich null. Das ist nicht weiter verwunderlich, da wir selbstverständlich vollständig mit unserem eigenen Erbgut übereinstimmen. Die einzig anderen Personen mit dieser Eigenschaft sind übrigens eineiige Zwillinge und Klone. Mit unseren Eltern und Kindern teilen wir uns im Schnitt nur noch die Hälfte unseres Erbguts, weshalb sie den Grad eins haben. Großeltern und Enkelkinder wiederum haben durchschnittlich nur mehr ein Viertel ihres Erbguts mit uns gemeinsam und daher Grad zwei. Der Verwandtschaftskoeffizient nimmt also mit jeder Pfadebene der sogenannten linearen Verwandtschaft (direkte Abstammung) um die Hälfte ab und der genetische Grad der Verwandtschaft um eins zu.

Bei der sogenannten Seitenverwandtschaft (indirekte Abstammung) müssen wir lediglich berücksichtigen, dass sich Vollgeschwister durchschnittlich ebenfalls die Hälfte des Erbguts teilen, weil ihre Eltern jeweils die Hälfte beisteuern. Sobald wir also eine Abzweigung zum Pfad einer Seitenlinie nehmen, lassen wir den Faktor ein Halbes einmal weg. Cousinen und Cousins haben beispielsweise den Verwandtschaftskoeffizienten ein Achtel und somit den genetischen Verwandtschaftsgrad drei. Das liegt daran, dass wir mit unseren Tanten und Onkel durchschnittlich gleich stark verwandt sind, wie mit unseren Großeltern und daher für Cousinen und Cousins nur noch ein weiteres Mal mit dem Faktor ein Halbes multiplizieren müssen. Mit dieser Vorgehensweise kommen wir auf folgende Verwandtschaftsgrade:


Verwandtschaftsgrade nach Genetik (Bildquelle: eigene Darstellung mit Word)
Legende: 0 (Grau), 1 (Rot), 2 (Grün), 3 (Blau), 4 (Gelb), 5 (Magenta), 6 (Türkis), 7 (Indigo), 8 (Orange)

Ist Blut immer dicker als Wasser?

Der rechtliche Verwandtschaftsgrad ist unter anderem bei Obsorge- und Erbschaftsfragen von Bedeutung und hängt nicht notwendigerweise mit Blutsverwandtschaft zusammen, da beispielsweise auch adoptierte Kinder berücksichtigt werden. Er entspricht aber in vielen Fällen dem genetischen und kann auf zwei verschiedene Arten bestimmt werden. Es gibt dafür einerseits die Vorgehensweise des bürgerlichen Rechts, das sich am römischen Recht orientiert, und andererseits jene des kanonischen Rechts der katholischen Kirche, das sich am germanischen Recht orientiert.

Um den zivilrechtlichen Verwandtschaftsgrad zu bestimmen, suchen wir den kürzesten direkten Weg zwischen zwei Verwandten. Wir selbst sind dabei der Ausgangspunkt und haben dementsprechend den Grad null (ähnlich wie bei einem Koordinatensystem). All unsere unmittelbaren Vorfahren (Eltern) und Nachkommen (Kinder) haben den Grad eins. Durch jede weitere Pfadebene nimmt der Grad um eins zu. So haben beispielsweise die eigenen Großeltern oder Enkel schon den Grad zwei und die Urgroßeltern und -enkel den Grad drei.

Bei der Seitenverwandtschaft wird es vermeintlich komplizierter, denn es erscheint uns möglicherweise eigenartig, dass unsere Geschwister in diesem Fall den Grad zwei haben, obwohl wir Teil derselben Generation sind. Alle Einträge in dieser Pfadebene sind allerdings nicht direkt miteinander verbunden, weshalb wir einen Umweg gehen müssen.

Glücklicherweise gibt es eine einfache Regel, mit der wir den rechtlichen Verwandtschaftsgrad für beide Arten der Abstammung bestimmen können: Dazu gehen wir einfach die Pfade im Baumdiagramm entlang und zählen die sogenannten vermittelnden, d. h. dazwischen liegenden Geburten. Eine andere Möglichkeit ist, die Anzahl aller Personen beider Linien zu zählen und eine (das Stammesoberhaupt) abzuziehen. Die Vorgehensweise ähnelt also jener des genetischen Verwandtschaftsgrads.

Nun sollte klar sein, wieso Geschwister den gleichen Grad haben wie Großeltern und Enkel. Unsere Eltern und Kinder sind nur eine Geburt von uns entfernt. Zwischen uns und unseren Geschwistern sind es jedoch zwei: eine davon liegt zwischen uns und unseren Eltern und die andere zwischen unseren Eltern und dem jeweiligen Geschwisterkind. Unsere Cousins und Cousinen sind vier Geburten von uns entfernt und haben deshalb den Verwandtschaftsgrad vier. Cousins und Cousinen zweiten und dritten Grades heißen zwar so, haben aber den rechtlichen Grad sechs bzw. acht. Auf diesem Weg ergeben sich folgende Grade:

Verwandtschaftsgrade nach Zivilrecht (Bildquelle: eigene Darstellung mit Word)
Legende: 0 (Grau), 1 (Rot), 2 (Grün), 3 (Blau), 4 (Gelb), 5 (Magenta), 6 (Türkis), 7 (Indigo), 8 (Orange)

Das heutzutage weniger relevante Kirchenrecht ist in dieser Hinsicht ein sogenanntes Gewohnheitsrecht und funktioniert im Hinblick auf den Verwandtschaftsgrad ähnlich, denn auch hier suchen wir den kürzesten Weg zwischen zwei Verwandten, indem wir den längeren Abstand zum letzten gemeinsamen Vorfahren berechnen. Praktisch bedeutet das, dass wir uns nicht immer streng entlang der Pfadlinien bewegen müssen, da Seitwärtsbewegungen in derselben Generation nun auch zulässig sind. Jede Bewegung im Baumdiagramm nach oben, unten oder seitlich erhöht dabei den Verwandtschaftsgrad um eins. Bei der direkten Verwandtschaft macht das keinen Unterschied, aber zusätzlich zu unseren Eltern und Kindern haben in diesem Fall auch unsere Geschwister den Grad eins. Unsere Großeltern, Tanten und Onkel, Cousinen und Cousins, Neffen und Nichten sowie Enkelkinder haben dadurch alle den Grad zwei und so weiter:


Verwandtschaftsgrade nach Gewohnheitsrecht (Bildquelle: eigene Darstellung mit Word)
Legende: 0 (Grau), 1 (Rot), 2 (Grün), 3 (Blau), 4 (Gelb), 5 (Magenta), 6 (Türkis), 7 (Indigo), 8 (Orange)

Wieso haben manche Personen gleichzeitig verschiedene Verwandtschaftsgrade?

Nun fragen wir uns möglicherweise, warum viele Bezeichnungen für Verwandte den Zusatz "n. Grades" haben, wenn dieser doch in den meisten Fällen gar nicht stimmt. Das hängt mit dem bereits erwähnten Generationenabstand zusammen. Dieser wird ebenfalls als Grad angegeben und daher oft mit anderen Verwandtschaftsgraden verwechselt. Wie der Name schon sagt, handelt es sich dabei um einen weiteren Abstand, den wir in unserem Baumdiagramm ablesen können. Im Gegensatz zu den anderen Angaben sagt er jedoch etwas darüber aus, wann sich die jeweilige Stammlinie einer verwandten Person abgezweigt hat. Dazu zählt man den Abstand zur letzten Generation, die von gemeinsamen Vorfahren abstammt.

Unsere Cousins und Cousinen beispielsweise befinden sich zwar in derselben Generation wie wir, sind aber Verwandte ersten Grades, weil ihre Stammlinie sich eine Generation davor abgezweigt hat. Unsere gemeinsamen Vorfahren sind also in diesem Fall unsere Großeltern und die beiden Stammlinien jene unserer jeweiligen Eltern. Geschwister sind somit quasi Cousins und Cousinen nullten Grades, weil sich ihre Stammlinie erst in unserer Generation abzweigt. Bei Cousin und Cousinen zweiten Grades hingegen hat sich die entsprechende Seitenlinie zwei Generationen früher abgezweigt, und zwar in der Generation, die von den Urgroßeltern abstammt. Die beiden Stammlinien sind in diesem Fall jene unserer jeweiligen Großeltern. Bei Cousinen und Cousins dritten Grades ist das wiederum vor drei Generationen passiert und so weiter:

Verwandtschaftsgrade nach Generationenabstand (Bildquelle: eigene Darstellung mit Word)
Legende: 0 (Grau), 1 (Rot), 2 (Grün), 3 (Blau) und 4 (Gelb)

Und was ist mit angeheirateter Verwandtschaft?

Ich erzähle gerne, dass mein Mitbewohner mein Cousin dritten Grades ist, weil sein Onkel meine Tante geheiratet hat. In Wirklichkeit sind wir aber nicht blutsverwandt, sondern nur entfernt verschwägert und würden uns deshalb eher in einer sogenannten Affinitätstafel wiederfinden. Da wir beide Neffen von verheirateten Verwandten sind, macht uns das Ganze allenfalls zu Schwippschwägern. Diese Bezeichnung ist allerdings eher für Geschwister von Eheleuten gebräuchlich, was in diesem Fall unsere Eltern sind.

Ich behaupte aber, dass man uns mit Cousins dritten Grades vergleichen kann und begründe meine Aussage damit, dass echte Cousins dritten Grades in Bezug auf die Erbgutübereinstimmung bereits sehr weit voneinander entfernt sind. Sie weisen also einen vernachlässigbar kleinen Verwandtschaftskoeffizienten auf und sind dadurch, statistisch gesehen, weniger miteinander verwandt als zwei zufällig ausgewählte nicht blutsverwandte Personen aus derselben Bevölkerungsgruppe. In anderen Worten: Wir wären theoretisch vielleicht sogar weniger miteinander verwandt, wenn wir tatsächlich miteinander verwandt wären.

Herzlichen Dank für wertvollen Input zur Struktur von Baumdiagrammen von Stephan!

Im Gedenken an Norbert Felber.

Johannes C. Huber (hat fast fünfmal so viele Cousins wie Cousinen)

* nicht zu verwechseln mit Stammtafeln, welche lediglich jene Nachkommen mit demselben Nachnamen wie die Ausgangsperson enthalten

Quellen:

  • Embacher F. (2003): Von Graphen, Genen und dem WWW.
  • Grad T. (2021): Ahnenforschung. Einführung und weiterführende Tipps. Familienforschung für jedermann. 12. Aufl.
  • Theus V. (1978): Die genetische Verwandtschaft.